Ich bin ja nicht der älteste, und so habe ich Anfang der 1990er Jahre als armer Schüler und Azubi noch CB-Funk gemacht. Da kaufte man sich Hardware, schraubte die Antenne aufs Haus- oder Autodach und konnte ohne jede Zugangsbeschränkung (die Anmeldepflicht beim Amt war bereits abgeschafft) in die Kommunikation mit anderen einsteigen. Vollkommen anonym übrigens, denn das Ausplaudern von Klarnamen war praktisch geächtet.
So etwa Anfang 1993 habe ich dann von einem Computerflohmarkt ein 2400-Baud-Modem mitgebracht. Ab da ging es ganz schön rund. Von heute betrachtet, ist es fast unvorstellbar, wie schnell sich die Dinge damals für mich weiterentwickelten und änderten.
Zu der Zeit hatte ich schon 10 Jahre in Zeitungen von diesen Mailboxen gelesen, aber jetzt konnte ich mich endlich selbst einwählen. Mein Zuhause waren bald das MausNet, und FidoNet, das damals eben gerade den großen Fido-Putsch hinter sich hatte und in Deutschland in zwei bis aufs Blut verfeindete Netze gespalten war. Das war eine ziemlich gesellige Zeit mit wirklich großen regelmäßigen Mailboxtreffen der beiden MausNet-Mailboxen aus Wiesbaden und der Mailbox aus dem Rhein-Lahn-Kreis, bei der ich FidoNet-Point war.
Nach dem Ende meiner Lehre hatte ich ein Einkommen und bald auch meine eigene FidoNet-Mailbox. Das müßte so Ende 1994 gewesen sein. Der Putsch wirkte noch nach. Es gab zahlungskräftige Mailboxbetreiber, die per Ferngespräch nachts das Routing in andere Länder abwickelten und von den in der Hierarchie unterhalb von ihnen angesiedelten Mailboxen wahlweise Anerkennung oder Geld forderten, eigentlich aber beides. Kürzlich habe ich auf meinem Fileserver die Digitalfotos von einem Treffen in Frankfurt-Bockenheim im Jahr 1995 wiedergefunden, wo es genau um dieses Thema ging.
Parallel hatte ich im Frühjahr 1995 mit Compuserve angefangen. Im “Compuserve Information Manager”, der proprietären Zugangssoftware, hatte man themenbezogene sogenannte “Foren” (etwa: “Deutschland” oder “Filme”), die aus einem Chatbereich, einem Messagebereich und einem Download-Bereich bestanden. In Compuserve herrschte Ruhe. Anders als im nervigen FidoNet gab keine Diskussionen darüber, wer Geber und Nehmer war, sondern alle bezahlten in einer Richtung ihre monatlichen und stündlichen Beiträge an Compuserve und ihre Telefongebühren an die Post.
Nachdem ich per Compuserve die ersten Schritte ins WWW gemacht hatte, tauchte die erste Reklame eines örtlichen ISP auf, bei dem ich Kunde wurde. Das Mailboxthema habe ich dann bald an den Nagel gehängt. Nach den Querelen der FidoNet-Zeit empfand ich es als Erleichterung, die Infrastruktur nicht mehr nach Gutsherrenart vom lokalen Netzfürsten zu bekommen, sondern einfach dafür zu bezahlen. Wie es weiterging, kann man sich ausrechnen: Noch 1995 die erste Homepage, 1996 die erste eigene Domain, bei meinem Arbeitgeber das Internetthema komplett betreut, 1997 selbständig mit meiner eigenen Firma.
Das Social Networking lief in dieser Zeit per Mailinglisten, IRC und Newsgroups. Wer einen Internetzugang hatte, konnte ohne jede Zugangsbeschränkung in die Kommunikation mit anderen einsteigen.
Als es Anfang der 2000er Jahre mit den Blogs losging, dachte ich ernsthaft, wir hätten es geschafft und hätten die öffentliche Meinung im Internet wirklich befreit. Die Grenzen von Mailboxen oder Uni-Rechnern waren gesprengt, jeder konnte frei sein Ding machen und seine Meinung veröffentlichen. Man hatte das Gefühl, richtig was bewegen zu können, aber die realistischeren Mitglieder der Szene wussten ehrlich gesagt immer, dass es außerhalb der “Bloggeria” eigentlich gar keine Anteilnahme an unseren großen Aufregern gab.
Und dann kamen Facebook und vor allem Twitter. Gerade Twitter, am Anfang noch aufgrund seines speziellen Funktionsumfangs belächelt, wurde zum Zentralorgan der engagierten Netzbewohner. Der CB-Funk des Netzes. Wer es schaffte, sich vor einen Rechner mit Internetzugang zu setzen, oder ein Smartphone in die Hand zu nehmen, hatte plötzlich ein weltweites Publikum und konnte ohne Zugangsbeschränkung in die Kommunikation mit anderen einsteigen. Als 2009 das Flugzeug im Hudson gewassert war, stammelte der Nachrichtensprecher in den deutschen Abendnachrichten noch, während die Bilder der geretteten Passagiere bereits seit einer halben Stunde per Twitter um die Welt gingen. Von 2010-2012 rollte eine Welle von Revolutionen durch Nordafrika, auch getragen durch Twitter und Facebook. 2012 hat Twitter es geschafft, tausende für Occupy und gegen ACTA auf die Straße zu bringen.
Mahnende Stimmen wegen dieser kostenlosen Dienste hatte es schon länger gegeben: “Wenn ihr für das Produkt nichts bezahlt, seid ihr selbst das Produkt.” Ob das stimmt? Es fällt mir schwer, es abschließend zu beurteilen. Aber gerade in 2012 wurden mehrere vermeintlich seriösere, offenere und verteiltere Twitter-Alternativen mit ungeheuer großem Enthusiasmus angekündigt und frenetisch begrüßt, die anschließend in Rekordgeschwindigkeit vergessen wurden. Eine kam durch, und die war weder offen noch verteilt: Das kostenpflichtige app.net will eine vielfältig benutzbare Plattform sein, und kein reiner Dienst fürs Microblogging. Für 3 US-Dollar im Monat schmorten ein halbes Jahr lang die ausgewiesensten Spezialisten für Social Networking im exklusiven eigenen Saft.
Dass app.net mit diesem reinen Bezahlsystem lebensunfähig geboren war, wurde nur von wenigen erkannt, jedoch immerhin von app.net selbst. Und so wurden die Tore Anfang 2013 geöffnet und es durften auch nicht-zahlende Benutzer mitspielen, jedoch nicht ohne Zugangsbeschränkungen, sondern zu bestimmten Bedingungen, die die Möglichkeiten zur Kommunikation mit anderen reglementieren. Das war der Tag, an dem app.net für mich interessant wurde und ich meine 36 US-Dollar für 12 Monate bezahlt habe, um mir die Sache anzuschauen. Gleich nach dem ersten Anmelden war erkennbar, dass diese Freigabe für reichlich Aufruhr bei den zahlenden Usern der ersten Stunde sorgte. Viele waren sichtlich nicht begeistert waren vom Anblick der einfallenden Usermengen. Der Untergang der Diskussionskultur und eine Welle an Fernseh- und Fussballtweets wurden herbeibeschworen.
Viele halten app.net für das nächste große “Ding”, das die Netzwerkkommunikation revolutionieren wird. Ich melde Zweifel an. Und ich habe die Geduld in dem Moment verloren, als ich einen Chat-Dienst auf Basis von app.net gesehen habe. Hier gibt es in der Außenwelt Protokolle wie XMPP und IRC, die bereits für Millionen von Nutzern etabliert sind – teils seit Jahrzehnten – und deren Benutzung jedermann offensteht. Die hier erkennbare Tendenz, sich nach der totalen Offenheit von Twitter in ein geschlossenes Netzwerk zurückziehen zu wollen, um den Anblick des Pöbels nicht mehr ertragen zu müssen, erschreckt mich. App.net ist für mich ein Rückschritt um 20 Jahre, in die abgeriegelte Umgebung von Compuserve. Aus Angst vor der Kränkung, vermeintlich das Produkt zu sein, verkriechen sich vermeintlich erleuchtete Experten in einen kostenpflichtigen privaten Zirkel.
Bereits heute klafft die Schere weit auseinander: Auf Twitter werden Menschenrechtsdemos organisiert, während sich auf dem intellektuell ausgebluteten Facebook schonmal Lynchmobs bilden. Als die erfahrensten Netznutzer müssen wir das verstehen, handeln und Verantwortung übernehmen. Die freie Kommunikation für jedermann muss geschützt werden.
Wie sollen sich ein Schüler aus einfachen Verhältnissen, ein arbeitsloser junger Mensch oder ein Rentner am Rand des Existenzminimums gut vernetzen, wenn alles, wo sie gehört werden würden, app.net mit seinen rigiden Limits für kostenlose User ist? Welcher Sache ist gedient, wenn sich eine selbsternannte netzintellektuelle Oberschicht in ihrem Club einsperrt, vom dem aus die normalen Menschen nicht mehr sichtbar sind? Und selbst wenn kostenlose User mit viel mehr Möglichkeiten ausgestattet werden: Was, wenn ein solcher Bezahlservice pleite geht, oder wir ihm aufgrund der Rechtslage in seinem Land nicht mehr vertrauen können? Ein “Fork” wie er zur Zeit des unseligen Fido-Putsch möglich war, wird dann undenkbar sein.
Jedermann sollte ohne Zugangsbeschränkung mit anderen kommunizieren können. Freie Software für verteilte soziale Netze ist seit Jahren verfügbar und wird aktiv entwickelt. Der Weg zurück in die Steinzeit der sozial undurchlässigen bezahlten Datennetze ist der falsche.
One thought on “[2013] app.net – Die spießige Sehnsucht nach Ruhe”
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Ich finde auch dass die technische Umsetzungen in den letzten Jahren immer weniger Leistungsfähig geworden sind.
Mit IRC sind Räume mit hunderten Nutzern, auf Servernetzen mit tausenden solchen Räumen kein Problem. Mit XMPP-MUC wird es bereits ab 1-2 Dutzend Nutzern in einem Raum wackelig. Länger als 2-3 Tage unterbrechungsfrei online sein? Fehlanzeige!
Twitter und Co. erhöhen Architekturbedingt den gefühlten Ping auf mehrere Sekunden, das ist nicht schlimm da es eh mehr als Inbox verwendet wird in der man mal die Inhalte der letzten Stunden liest und evtl. bantwortet, aber soviel zu “Echtzeitkommunikation” als die es immer verkauft wird. Das ist es nicht, es ist poll statt push.
Die von dir erwähnten zentralen Strukturen machen das nicht besser und dank sinnlosen Spielereien wie voller UTF8-Raum für Nicknames statt a-z/A-z/0-9/_/. bei Muc oder Bild-/Video-/Seitenvoransicht-Einbettung bei Twitter, Kurz-URL-Diensten und co. erhöht man die Anforderungen und die Anfälligkeit ohne wirklich Zusatznutzen davon zu haben.
Wir erfinden das Rad immer wieder neu, aber jedes mal mit mehr Ecken! Wenn wir unendlich viele Ecken haben wird es sicher perfekt rollen. Keiner Kommt auf die Idee dass ein Rad ohne Ecken vlt. auch rollen könnte.